Ulrike Thomas
Foto und Text

Dienstag, der 20. August 2024

Dass ich zwei Jahre hier meine Arbeitszeit verbrachte (1989 bis 1991), hat wenige Bilder in meinem Gedächtnis hinterlassen, erlebte ich als Berufspendlerin die Stadt doch hauptsächlich aus der Haltestellenperspektive (Hauptbahnhof, Straßenbahn) beim morgendlichen Hin- und abendlichen Hereilen. Auch spätere Besuche waren orts- und zweckgebunden und erforderten Augenmerk auf Belange, die kaum touristischer Natur waren. So will ich nun die Gelegenheit schaffen, »meine« Landeshauptstadt mit der Neugier einer Tagestouristin zu erkunden.
Heute muss ich zum ersten Mal umsteigen, also zuerst mit der S9 nach Karlsruhe, dann mit dem IRE1 nach Stuttgart. In der Bahn ist wieder einmal die (einzige) Toilette defekt. Das scheint ein Dauerproblem zu sein. Hoffentlich wachsen sich meine zwei Tassen Kaffee von heute morgen nicht zur Plage aus.
Pünktlich um 10.36 Uhr fährt der Zug in Mannheim ab. Ein Streit bricht aus. Ein kleiner Junge lässt (ein Mal!) laut den Mülleimerdeckel fallen, worauf ein älterer Mitreisender sich lauthals beschwert. Etliche andere pampen nun den Mann an. Erfreulicherweise beruhigen sie sich wieder. Ich erinnere mich an das dauerhafte, nervtötende Klappern eines Kindes mit dem Deckel (ein schönes Spielzeug) auf einer längeren Zugfahrt. Ich habe damals nichts gesagt, das war falsch. Es wird weiter diskutiert. Eine Erwachsene wirft beim Aussteigen den Deckel absichtlich geräuschvoll zu. Mitmenschen ... Kurz vor Waghäusel erstreckt sich ein riesiges Feld mit aufgeständerten Solarpaneels. Schön ist das nicht. Die Schafe, die darunter grasen, stören sich nicht daran.
Eine Minute früher als geplant, erreichen wir Karlsruhe. Der Bahnhof beeindruckt mit einem gleichermaßen großzügigen wie ordentlichen und sauberen Erscheinungsbild. Hier werde ich Kaffee und einen Euro los, Sanifair lässt grüßen.

Im Interregio nach Aalen (über Stuttgart) sitzend, verheißt die Anzeigetafel auf dem Nachbargleis zum IRE in umgekehrter Richtung nichts Gutes: »Verspätungen, Ausfälle, Ersatzverkehr mit Bussen, Reparatur an der Oberleitung zwischen Pforzheim und Mühlacker ...« Dazu passt die Ansage in meinem Zug: »Unser Zug wird umgeleitet über Bruchsal, fährt nicht über Pforzheim und Mühlacker ...« Nichtsdestotrotz fahren wir pünktlich los und die Toilette funktioniert. Während der Zug sich auf einer anderen Strecke befindet, tönt es aus dem Lautsprecher unbekümmert: »Unser nächster Halt ist Pforzheim« und später »unser nächster Halt ist Mühlacker«. Aber wir laufen pünktlich in Stuttgart ein.
Der Bahnhof ist bekanntermaßen immer noch Baustelle, was den Reisenden einen Fußmarsch um das Monstrum herum aufzwingt.

Gegenüber der Baustelle erregt die »Mahnwache Stuttgart21« meine Neugier und ich treffe in dem Häuschen zwei ältere Stuttgarterinnen, die die Mahnwache halten. Seit 14 Jahren sind sie in der Initiative, die erfolglos versuchte, das Projekt zu stoppen. Auch am 30. September 2010 waren sie dabei als bei einer Großdemonstration im Schlossgarten durch das brutale Vorgehen der Polizei – die Einsatzpläne waren vom damaligen CDU-Ministerpräsidenten Mappus zumindest abgesegnet – viele Hundert friedliche Demonstranten verletzt wurden. Noch immer finden die Montagsdemonstrationen statt und das grüne Holzhäuschen ist fast rund um die Uhr besetzt, auch wenn die Zahl der Aktiven seit der Volksabstimmung 2011 und nachdem die Baustelle täglich Tatsachen schafft, geringer geworden ist. »Nein, wir geben nicht auf«, erklärt Annelies Haack, die auch bereit ist, sich von mir ablichten zu lassen – meine »Begegnung des Tages«.

Begegnung des Tages: Annelies Haack – Foto: Ulrike Thomas

Nachdem ich der Tourist-Info einen Besuch abgestattet und dort erfahren habe, dass das von mir ausgewählte vegetarische Restaurant nicht mehr existiert und es in Stuttgart kein einziges Lokal gibt, das diesen Titel verdient (also eines, in dem man oder frau sich nicht sein Essen und Getränke an der Theke holen muss, sondern gemütlich am Tisch bedient wird), führt mein Weg durch den Schlossgarten zum Kunstverein, wo eine informative Ausstellung das Versagen der Polizei während und nach dem Anschlag 2020 in Hanau, bei dem ein Rechtsextremer neun Menschen mit Migrationshintergrund tötete, aufarbeitet.
Eines der ältesten Bauwerke Stuttgarts, seine Ursprünge gehen bis auf das Jahr 950 zurück, ist das Alte Schloss, das das Landesmuseum Württemberg beherbergt. Im Innenhof der beeindruckenden Trutzburg ist ein stark frequentierter Wasserspielplatz für die Kleinsten und eine einladende Sitzoase für die Großen aufgebaut.

Altes Schloss – Foto: Ulrike Thomas

Magisch zieht es mich allerdings in die Markthalle um die Ecke. Hier wird wahrlich den kulinarischen Genüssen gehuldigt! Das südländische Gepräge erinnert an die Markthalle in Funchal auf Madeira oder an den Versuch einer solchen im Alten Hallenbad in Heidelberg, der allerdings aufgrund hoher Preise und ausbleibender Kundschaft bald scheiterte. Während das Untergeschoss den Gaumenfreuden vorbehalten ist, gibt es auf der Galerie darüber alles, was man zum Wohnen (nicht?) braucht. Im »Schlaraffenland« kaufe ich ein paar Kleinigkeiten für mein Abendessen, die ich allerdings gleich draußen auf der nächsten Bank testen muss. Das Baguette (endlich!) – der Bäcker hat nicht zu viel versprochen –  schmeckt so wie es schmecken muss und der Käse dazu »aus der Faust«, ein Hochgenuss. Und zum Nachtisch koste ich den köstlichen türkischen Honig. Was kann ein Mensch mehr wollen?

Nun folge ich einem Tipp des Tourismusbüros ins Bohnenviertel rund um Rosen- und Weberstraße. Man muss schon genau hinsehen, wenn man da die sogenannte Altstadt erkennen will. Nicht zu übersehen ist an deren Ende jedoch das Rotlichtviertel (Leonhardstraße), wo sich Bordell an Bar und Bar an Bordell reiht. Klein-Kreuzberg-artig präsentiert sich dann der Abschluss dieses Viertels, wo ich bei einem kühlen Getränk raste.

Auf dem Rückweg zum Bahnhof nehme ich noch die Calwer Passage mit, die mit üppiger Fassaden- und Dachbegrünung beeindruckt.

Calwer Passage – Foto: Ulrike Thomas

Überhaupt lohnt es sich, statt der Rennstrecke Königstraße mal den Seitenstraßen etwas Aufmerksamkeit zu widmen. So reiht sich in der Calwer Straße Lokal an Lokal mit vielen Tischen auf der Straße, eine »Fressgasse«, die ihren Namen verdient. Und an ihrem Ende lohnt sich ein Blick in das Feinkostgeschäft Böhm, in dem es alles gibt, was gut und teuer ist. Mit einem letzten Schnappschuss der Großbaustelle Bahnhof verabschiede ich mich von »meiner« Landeshauptstadt und begebe mich auf den Fußmarsch zu den Gleisen.
Ein Königreich für einen Sitz, die Füße schmerzen. Aber die wenigen Bänke am Gleis sind besetzt und die Wartenden stehen sich die Beine in den Bauch.
Trotz immer noch bestehender Umleitung kommt der Zug pünktlich und bleibt es auch bis zum Zielort Karlsruhe. Auch die S9 – wieder mit defektem WC – ob das immer der gleiche Zug ist – ich überlege ernsthaft, ob ich das Defekt-Schild markieren soll – fährt pünktlich ab und kommt ebenso in Mannheim an. Mein Ticket wurde übrigens auf keiner der heutigen vier Etappen kontrolliert.